Mein alter Apfelbaum und ich

… in diesem Moment war mir klar, dass ich meinen Apfelbaum porträtieren wollte, wie man auch Menschen porträtiert, um sie festzuhalten über ihr Lebensende hinaus. Und so setzte ich mich vor ihn hin – und begann.

Als ich zum 1. Mal meine Baumporträts ausstellte – 2020 beim Sommerfest von C&J, unserem Heurigen in Waschbach – habe ich diesen Text verfasst und ihn an der Vernissage am Freitag vorgelesen.

Mein alter Apfelbaum und ich – Porträt eines Baumes

Als ich das Haus mit dem Garten kaufte, standen zwischen den großen, alten Obstbäumen zahlreiche Jungbäume, man könnte auch sagen: ein kleiner Wald. Die meisten davon waren wild aufgegangen, in der Zeit, als das Haus keine Bewohner hatte. Ungefähr 70 haben wir entfernt. Die damals schon Ehrfurcht gebietenden großen Riesen haben wir geschnitten und gepflegt.

Das ist nun 45 Jahre her.

Als ich den alten Apfelbaum kennenlernte, trug er eine mächtige, breite Krone, der Stamm war gedrungen, verdreht und schief gewachsen. Die Äste streckte er weit ausgebreitet in den Himmel. Im November, wenn die rotbackigen Lederäpfel erntereif waren, hingen sie fast bis zum Boden.

Apfelbaum im Garten am 12.8., Aquarell, 40/50cm © 2006 Rosi Grieder-Bednarik

Wie vom Blitz getroffen brach er eines Nachts bei einem Unwetter entzwei, nur mehr die Hälfte seines Laubdaches ragte danach empor. Die große, rissige Wunde vernarbte, sein dicker Stamm mit der rauen Rinde strömte aber weiter dieselbe tröstliche Kraft aus.

Einige Jahre lang füllte die neben ihm stehende, ebenso große und alte Weide den Leerraum aus, indem sie sich etwas gegen den Apfelbaum lehnte – die beiden erschienen mir wie ein altes Ehepaar, das sich einträchtig im Alter gegenseitig stützt. Bis ein Sturm an einem trockenen Sommertag auch diesen mächtigen Baum, dessen Stamm ich mit beiden Armen nicht umspannen konnte, zu Boden zwang. Er war geschwächt durch ein Ameisenvolk, das sich in ihm eingenistet hatte.

Der Apfelbaum, der in den nächsten Jahren noch ein weiteres Viertel seiner Krone verlor, widerstand bis 2008 noch vielen Unwettern. In diesem Jahr jedoch brach der letzte große Leitast ab und legte sich vor dem Stamm zu Boden. Das war es nun, dachte ich.

Im Frühling 2009 geschah das Wunder: er stand in voller Blüte da, als trüge er ein Brautkleid. Sein Leben ging weiter, und genährt durch ein Stück Rinde, nicht viel breiter als eine menschliche Hand, lebt ein Teil von ihm immer noch. Die andere dürre Hälfte hat inzwischen eine riesige Heckenrose überwuchert.

Wie viele Jahrzehnte lang sind wohl mir unbekannte Menschen im Schatten dieses Baumes gesessen, haben die Jahreszeiten vorbei gehen sehen, ihr Glück unter ihm gefeiert oder Schicksalsschläge beklagt? Auch ich stehe in dieser Reihe und habe in ihm meinen besten Zuhörer und Tröster gefunden. In seine Rinde, die vom älter werden erzählt, die jedes Ereignis spiegelt, und die Verletzungen zeigt, die das Leben ihm zugefügt hat, habe ich auch meine Wunden gelegt. Um seinen Stamm sind alle meine Katzen beerdigt, und den Verlust der mir lieben Menschen habe ich in seinem Schutz beweint.

In der Rückschau wurde mir bewusst, dass in gewisser Weise ihn, den gebrochenen Baum, und mich dasselbe Los trifft, und er erschien mir als Metapher für mein eigenes Leben, er wurde zum Symbol für das trotzdem-Weiterleben und Wachsen nach schweren Stunden des Unglücks.

Fest verwurzelt im Boden steht er, im tiefen Grund mit der Erinnerung an Vergangenes.
Die Äste recken sich dem Licht der Sonne entgegen, die Zweige tragen immer noch zuerst Blüten und dann Früchte – und der Stamm hält all die Kraft zusammen, leitet sie weiter und stellt die Verbindung her.

Auch meine Kraft resultiert aus der Tiefe, der Ruhe und dem, was lang vor meiner
Zeit war. Ahnungen, Gefühle und Sehnsüchte lassen uns Menschen nach geistigen Höhen dem Licht entgegen streben, um mit Kopf, Geist und Verstand Visionen, Pläne und Wünsche in Wirklichkeit umzusetzen. Immer wieder bündeln wir unsere Kräfte, richten uns auf und leben weiter – bis zu dem Tag, wo das hohe Alter und die Umstände unser Dasein beenden.

Der Tag, an dem das Ende des Baumes – und auch meines naht, rückt näher.

Schon öfters habe ich in Wäldern Bäume gemalt, doch in diesem Moment war mir klar, dass ich meinen Apfelbaum und andere Bäume porträtieren wollte, wie man auch Menschen porträtiert, um sie festzuhalten über ihr Lebensende hinaus.

Und so setzte ich mich vor ihn hin – und begann.
Ich zeichnete all die Details, die kleinen Strukturen und Oberflächen, die harten Kanten und sanften Schwünge … brachte sie zu Papier mit unterschiedlichen Stiften in sachlich-realistischer Darstellung. Wer dafür empfänglich ist, kann vielleicht beim passiv Betrachten der Zeichnungen meine Gefühle erahnen und meinen aktiven Emotionen nachspüren.

© 2020 Rosi Grieder-Bednarik (Abdruck/Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Autorin)

Bericht in der NÖN im Juli 2020