Es gibt Grenzen und Grenzen.
Die eine Grenze ist eine künstliche, oft gewaltsame, willkürlich von einer fremden Macht aufgezwungene und mit Waffengewalt verteidigte Begrenzung.
Ein- und Ausgrenzen.
Innen – vertraut, mein Territorium
Draußen – das Fremde.
Die andere Grenze liegt in der Natur begründet.
Das größte Organ des Menschen, die Haut, grenzt den Körper, sein Inneres, sein Ich, von der äußeren Welt ab. Aus seiner Haut kann niemand heraus.
Liegt darin begründet, dass Menschen sich selbst und anderen zusätzlich Grenzen setzen, und dass sie sich innerhalb ihrer Grenzen sicher fühlen?
Brauchen – wünschen Menschen sich deshalb sichtbare und fühlbare Grenzen – wie konzentrische Kreise? Weshalb ist oft das erste, das Grundbesitzer errichten, ein Zaun?
Und gleichzeitig: Mit dem Nachbarn zu plaudern über den Gartenzaun hinweg hat etwas „Heimeliges“. Zwar Auge in Auge, aber doch mit einer kleine Barriere dazwischen.
Wir leben in einem Dilemma zwischen Öffnung und Rückzug.
Wir genießen die Spannung zwischen sich Hingeben und sich Verweigern.
Wir pendeln zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit.
Deshalb ist wohl auch all jenen Projekte, die – wie es oft heißt – „die Grenzen in den Köpfen abbauen wollen“ in Wirklichkeit kein Erfolg beschieden.
Sie müssten im Gegenteil auf dem Vorhandensein von Grenzen aufbauen. Denn positiv ist, dass es etwas Schönes, Befreiendes und Erhebendes sein kann, Grenzen, die es immer geben wird, zu überwinden, zu überschreiten, hinter sich zu lassen.
Grenzseitig
Diesseits und jenseits der Grenze: auf der einen Seite das Vertraute, auf der anderen das Fremde. Verlockend und beängstigend zugleich. Die menschliche Neugierde herausfordernd.
Nichts ist spannender, als das Ungewohnte, das Ungewöhnliche, das Fremde kennen zu lernen und sich darauf einzulassen. Dazu muss man sich selbst überwinden, Misstrauen abbauen, innere Widerstände außer Acht lassen, Ängste beiseite schieben, Vorurteile vergessen!
Was, frage ich mich, bewegt einerseits viele Menschen, sogenannte Grenzerlebnisse – extreme, ja manchmal lebens|gefährliche Situationen, wie im Sport, beim Reisen – auszukosten, andererseits aber daheim, in der U-Bahn es nicht zu wagen, sich neben einen Schwarzafrikaner zu setzen, geschweige denn, mit ihm ein Gespräch anzufangen?
Was lässt sie vergessen, dass auch sie für andere immer Fremde sind? – diesseits oder jenseits der Grenze, je nachdem, von welcher Seite aus betrachtet!
Grenzfluss
Ich wohne seit mehr als 40 Jahren an einer Grenze, die lange Zeit – abweisend, dicht und undurchdringlich – als „tote Grenze“ bezeichnet wurde. Die Grenzöffnung zwischen Ost und West – im Fall der Stadtgemein- de Hardegg eigentlich zwischen Nord und Süd – hat Erleichterung, Befreiung und Begeisterung ausgelöst – jedoch bei manchen auch Angst und Ernüchterung.
Diesseits des Flusses
Eine Generation lang lebten die Menschen an der Thaya so, als wäre in der Mitte des Flusses die Welt zu Ende. Kaum jemand verspürte den Wunsch, in die deprimierende Realität des benachbarten Ostblockstaa- tes Tschechoslowakei zu fahren. Die grauen Siedlungen und die Willkür eines kommunistischen Regimes, wirkten abschreckend. Die Nähe des in den 50er Jahren errichteten Eisernen Vorhangs mit Wachtürmen und Bunkeranlagen waren bedrohlich, obwohl diese Einrichtungen – unter der Parole „Schutz vor dem Imperia- lismus“ – gegen die eigene, die tschechoslowakische Bevölkerung gerichtet waren.
Die österreichischen Bewohner der Grenzregion wandten sich ab und vergaßen, was Südmähren und das Waldviertel einst verbunden hatte. Die Region fiel in einen Art „Winterschlaf “ und litt unter ihrer Randlage, – wirtschaftlich, strukturell, demographisch. Dazu kamen die Ressentiments aufgrund der Vertreibungen am Ende des 2. Weltkrieges.
Die Hardegger Schulkinder fragten einmal ihre Lehrerin: „Wie schauen die Leute da drüben eigentlich aus?“ – als würde es sich um Bewohner eines fernen Kontinents – oder gar eines anderen Sternes handeln. Es war ihnen nicht bewusst, dass es verwandtschaftliche Beziehungen gab, ja, dass manche von ihnen vielleicht sogar tschechisches Blut in den Adern hatten.
Bei einem Schulprojekt gemeinsam mit tschechischen Volksschulkindern erfuhren sie dann, dass es eine Zeit gab, wo die Thaya einfach nur ein Fluss war – und keine trennende Grenze.
In der Kaiserzeit bis zum 1. Weltkrieg gab es enge Beziehungen zwischen den Menschen beider Ufer.
Man trieb Handel, besuchte Kirtage, verheiratete sich.
1884 wurde die Straße von Hardegg nach Znaim fertig. Die Tschechen kamen auf Urlaub ins Waldviertel nach Hardegg – „in den Süden“, wo sie sich mit den Wiener Ausflüglern trafen, die „in den Norden“ reisten. Zur Hochblüte der Sommerfrische beherbergte jedes Haus in Hardegg Sommergäste, 1913 waren es an die 2000. Ein prominenter Gast, Viktor Kaplan, wohnte 1920 beim Perlmuttfabrikanten Mathias Artmann, der danach innovativ seine Maschinen zur Knopferzeugung durch eine Kaplanturbine antreiben ließ.
1918 wird mit der Gründung der ČSSR die Verwaltungsgrenze zur Staatsgrenze. Viele der heute tschechi- schen Dörfer stimmen damals ohne Erfolg für den Anschluss an Österreich. Die Hardegger Bauern dürfen zwar weiter ihre Felder am nördlichen Flussufer bestellen, die Grenzbrücke jedoch ist durch tschechisches Militär gesperrt.
20 Jahre später, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Südmähren im Oktober 1938, ist die Grenze wieder aufgehoben, man fährt aufs Neue mit dem Omnibus nach Znaim zum Einkaufen, ins Spital, in die Schule.
In der gesamten Region beider Ländern gewinnen die Nationalsozialisten an Macht, die NSDAP – Natio- nalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und die SdP – Sudetendeutsche Partei unter Führung von Konrad Henlein. Die danach folgende, verheerende Geschichte ist bekannt.
Bei Kriegsende 1945 kommt es neuerlich zur Grenzziehung von 1919 und zu der von den Alliierten abgeseg- neten Vertreibung der deutschstämmigen Bevölkerung. Die Bewohner von 10 südmährischen Dörfern – an die 3000 Menschen – müssen binnen weniger Stunden ihre Heimat über die Hardegger Brücke verlassen.
45 Jahre lang bleibt die Grenze geschlossen, der Bretterboden der Brücke abmoniert.
Dieses Bild prägte sich mir schon als Kind ein – gleichermaßen wie die Berliner Mauer als Symbol einer getrennten Welt.
Jenseits des Flusses
Auch die tschechische Bevölkerung wird damals umgesiedelt, die Höfe in den Grenzdörfern werden oftmals an Soldaten übergeben, die gerade von der Front kommen. Viele verstehen nichts von der Landwirtschaft, sie bewohnen die Häuser, bis sie verfallen, dann ziehen sie weiter. Heute noch ist an den Lücken in den Stra- ßendörfern erkennbar, wo Bauernhäuser verödeten.
In Tschechien erleidet die Bevölkerung nach dem 2. Weltkrieg die Zwangskollektivierung und die Aufhebung des Privateigentums. Bei der Gründung der Kooperative von Starý Petřín müssen 1950 alle Bauern ihr Vieh abgeben, die Felder werden zusammengelegt und gemeinsam bewirtschaftet. Das Wirtschaftsergebnis ist schlecht, die 57 Mitglieder der Einheits-Landgenossenschaft erhalten für ihre Arbeit kein Geld, sondern wer- den in Naturalien bezahlt. Jenen 15 Bauern, die daraufhin wieder austreten, werden untragbar hohe Liefe- rungen an Getreide, Fleisch, Milch und Eiern abverlangt. Zusätzlich werden sie der Sabotage beschuldigt und bestraft, sodass bis 1957 alle wieder der Einheits-Landgenossenschaft beitreten.
Zur Arbeit auf den grenznahen Felder benötigt man einen speziellen Ausweis. Die Grenze wird immer weiter ins Land hinein verlegt, zuletzt beträgt der breite Todesstreifen entlang der tschechischen Grenze 1% der Gesamtbodenfläche der ČSSR.
Mit der Zeit gewöhnen sich die Bauern an die geregelten Arbeitszeiten von 6–14 Uhr, zur Erntezeit bis 18 Uhr, sodass nach der Wende nur wenige Lust haben privat zu wirtschaften. Diejenigen, die es versuchen, erhalten nicht ihre eigenen Felder zurück, sondern schlechtere Böden in Randlagen, sie kämpfen ums Über- leben. 1990 wird die Einheits-Landgenossenschaft in Starý Petřín privatisiert und mit 38 Beschäftigten als landwirtschaftliche Farm betrieben, nur in Nový Petřín gibt es damals zwei selbstständige Bauern. Die Häu- ser sind wieder im Privatbesitz, es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass jemand sein enteignetes Haus vom Staat zurückkaufen musste.
1989 – im Jahr der Wende – als der Eiserne Vorhang fällt, balancieren die Menschen aus Freude über das nackte Eisengerüst nach Österreich und feiern mit den Hardegger EinwohnerInnen die ersehnte Freiheit. 1990 ist der Bodenbelag hergestellt und die Grenzstation an der Brücke für Radfahrer und Wanderer geöff- net. Nach der Öffnung von drei weiteren Übergängen an alten Straßenverbindungen, erschließt sich in der Grenzregion heute ein weitläufiges Rundwander- und Radtourennetz.
Nach 2004, mit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur EU, entstanden viele Kooperationen zwischen den Nachbarländern, von kleinen grenzübergreifenden Kunst- und Kulturprojekten bis zur Zusammenarbeit im großen Rahmen, wie die Partnerschaft der beiden Nationalparks und die Beteiligung dieses (Inter)Natio- nalparks Thayatal/Podyjí am Projekt Green Belt.
Das sogenannte „Grünen Band“ zieht sich an den ehemaligen Ostblockgrenzen 6.800 km quer durch ganz Europa. Man hat schnell erkannt, dass die Natur wohl als einzige von der „toten Grenze“ profitiert hat, und versucht ihre Unberührtheit zu erhalten.
Als ich damals als rund 60-jährige Österreicherin zum ersten Mal wieder Südmähren besuchte, erlebe ich ein Déjà-vu – ich fühlte mich zurückversetzt in meine Jugend: Die Landschaft schien vertraut, Wälder, Teiche, schmale kurvige Straßen, alte Alleen mit Apfel- und Kirschbäumen, Felder durch Raine begrenzt, Weingär- ten, Dörfer mit Anger, schöne Hausfassaden mit Kastenfenstern und geschnitzten Holztoren, bunte Bauern- gärten. Nur die riesigen Heuhaufen, fehlenden Scheunen und auf den zweiten Blick auch großflächige Felder, ließen erkennen, wie hier bäuerliche Güter produziert werden – nämlich immer noch fast ausschließlich in Großbetrieben.
Die Verschandelung dörflicher Ensembles, die damals in Österreich gang und gebe war, durch modernisierte Fassadengestaltung, Fenster, groß wie Auslagen, hässliche Garagentüren oder unpassende Dachdeckungen, blieben den tschechischen Dörfern großteils erspart. Für die Dorferneuerung fehlte in den 80er Jahren dort einfach das Geld. Und man hat den Eindruck, dass heute die Renovierungen (vermutlich auch aufgrund der im Westen sichtbar begangenen Fehler) mit mehr Feingefühl durchgeführt werden.
Grenzüberschreitung
100 Volksschulkinder der Stadtgemeinde Hardegg und der Gemeinde Starý Petřín waren für 2 Jahre an unserem Projekt »Leben im Dorf – Dorf(er)leben« beteiligt, das wir in unserer Gemeinde gestartet, bald aber grenzüberschreitend ausgeweitet hatten.
Die Kinder erforschten in 30 Interviews zu verschiedenen Themen das Leben ihrer Vorfahren in den Dör- fern. Zum Beispiel erzählte eine österreichische Frau den Kindern von ihrer Vertreibung und dem Beginn eines neuen Lebens in Österreich. Gemeinsam mit den Kindern betrachtete sie auf alten Fotos Panzersper- ren und Stacheldraht und erinnerte sich, dass der Sandstreifen täglich gerecht wurde, um frische Fußspuren Flüchtiger sofort zu erkennen. Ein tschechischer Bauer namens Hoch berichtete, wie er nach Starý Petřín gekommen war und dort seine neue Heimat fand.
So entdeckten die Kinder, dass in Österreich tschechische Namen nicht ungewöhnlich sind, ebenso wie im Nachbarland deutsche Namen.
Sie erfuhren bei ihren Interviews viel über die wirtschaftliche und technische Entwicklung in beiden Län- dern; über das Alltagsleben und die Freizeitgestaltung der Generation ihrer Großeltern;
und, dass manche Festtagsbräuche in beiden Ländern kaum voneinander abweichen und bis heute gleich geblieben sind: Maibaumaufstellen, Faschingstreiben, Osterratschen;
Aber auch die Hoffnungen und Ängsten der Menschen in beiden Ländern, wenn es um das Verschwinden der Grenze ging, kamen zum Ausdruck.
Mit dem Abschluss des Projektes feierten wir gemeinsam auch den EU-Beitritt der Tschechischen Republik mit einer Ausstellung und einem Fest im Nationalparkhaus im Rahmen des NÖ Viertelfestivals 2004. Alle Kinder, hatten ihre Wünsche an eine glückliche Zukunft auf Zetteln geschrieben und ließen sie mit Luftbal- lons in den Himmel steigen.
Zum Fest und an die zweiwöchige Ausstellung kamen 2500 Menschen.
Neben den Hoffnungen waren auf beiden Seiten der Grenze auch viele Zweifel vorhanden. Man sollte mei- nen, die Leute im Grenzland hätten sehnsüchtig darauf gewartet, endlich ohne territoriale Einschränkungen leben zu können. Sich zu freuen, ohne Formalitäten und Kontrollen oder gar Schikanen die Grenzen passie- ren zu dürfen. Doch bei den Volksbefragungen zum EU-Beitritt war sowohl in Österreich als auch in Tsche- chien der Prozentsatz der Nein-Stimmen in den Grenzgemeinden beider Länder der höchste, oft über 90 %. Auf beiden Seiten herrschte die irreale Angst vor Kriminalität, die Furcht vor Gaunern und Dieben – und bei jedem entsprechenden Delikt wurden zuerst „die anderen“ verdächtigt. Ebenso irreal – meinten alle,
im jeweils anderen Land günstigere Einkaufsmöglichkeiten zu finden und nützten sofort den freien Grenz- verkehr. Nach den Einschränkungen des kommunistischen Regimes erlagen die einen vielleicht dem Glanz „westlicher“ Waren, während die anderen auf niedrige Preise spekulierten. Beides hat sich inzwischen jedoch angeglichen. Leider leben wir nun in einer Zeit, wo Länder dazu tendieren, ihre Grenzen wieder zu schließen – aus anderen Gründen, die jedoch wieder mit der Angst vor den Fremden spielen.
Damals, nach der Grenzöffnung, kämpften alle Grenz-Gemeinden, tschechische wie österreichische, mit den gleichen Problemen: Abwanderung, Überalterung, Mangel an Arbeitsplätzen. Kleingewerbe und Handel waren fast ausgestorben.
Jungen Menschen fehlt auch heute noch die Zukunftsperspektive, für bessere Ausbildungen oder Jobs müs- sen sie oft lange Wegzeiten und schlechte Verkehrsverbindungen in Kauf nehmen.
Die Sprachbarriere, die beim Schulprojekt „Leben im Dorf “ 2002 noch ein großes Hindernis war, hat sich ge- bessert, obwohl die Generation jener Menschen, die beide Sprachen beherrschten, nun schon verstorben ist. Man hat aber erkannt, dass das Erlernen der Nachbarsprache ein Vorteil ist, um einander näher zu kommen. Jetzt wird sogar in manchen Volksschulen und Kindergärten ein rudimentärer Unterricht der Nachbarspra- che angeboten, in vielen höheren Berufsschulen als Hauptfach. Die Jugend nützt vorwiegend Englisch zur Verständigung, aber auch der Google-Translater leistet ab und zu gute Dienste.
Ich habe den Eindruck, dass die junge Generation heute unbefangen aufeinander zugeht, und ganz selbstver- ständlich den Kontakt miteinander über die Grenze hinweg pflegt.
Grenzübergreifender Austausch wie zwischen den Gemeinden Vranov und Hardegg, in der Form von Zu- sammenarbeit der beiden Nationalparks Thayatal und Podyjí, Projekte im Bereich der Kultur – vor der jetzi- gen Ausstellung hat der tschechischer Künstler Ota Blažek unsere Hardegger Galerie bespielt – oder gemein- same Feste und Feiern wie dieses Wochenende anlässlich »30 Jahre offene Grenzen« machen mir Hoffnung für die Zukunft.
Rosi Grieder Bednarik © 2009